"Kunst und Unterhaltung sind verschwistert - und keine Feinde."  John Irving

 

Meine Lesebiografie - eine andere Form eines Lebenslaufs ...

 

Lesen ist in meinem Leben allgegenwärtig - es ist die Triebfeder, die mir Kraft gibt und aus der ich Motivation schöpfe, die mich in fremde Welten eintauchen und an exotischen Orten verweilen lässt.

So möchte ich den Leser gerne mitnehmen in meinen Lesewerdegang, eine ganze spezielle Art von Biografie, die sehr viel über mich auszusagen vermag.

Das Zitat Irvings, welches diesen paar Zeilen voran steht, ist für mich von enormer Wichtigkeit, was die Beurteilung von ach so manchen selbsternannten Literaturmonarchen im Bezug auf den Gehalt von Literatur betrifft.

Der Vergleich zur Musik drängt sich da doch auf und wird von mir an dieser Stelle auch bewusst gesucht, da ich dazu einen sehr passenden Spruch von Leonard Bernstein aus dem Ärmel schütteln kann:

"Es gibt für meine keine U- oder E-Musik, sondern nur gute und schlechte."

 

Die Einteilung in Unterhaltungs- oder sogar Trivialliteratur und sogenannte hochstehende Belletristik kann ich nicht nachvollziehen und sie ist mir wahrscheinlich deshalb so ein Dorn im Auge, weil ich zu Beginn meiner Lehrerausbildung am Seminar, Mitte der 80er Jahre, von meinem Deutschlehrer und ein paar seiner Jünger aus meiner damaligen Klasse eingeflößt bekommen habe, was man zu lesen hat und was nicht - oder anders gesagt: Was die Bezeichnung "Literatur" überhaupt verdient hat.

In gutem Glauben, ich sei lesetechnisch bisher auf dem Holzweg gewesen, begrub ich meine damaligen Lieblinge aus den Jugendtagen – da gehörten beispielsweise Karl May oder die Alfred-Hitchcock-Reihe dazu – und wandte mich der „hohen Literatur“ zu – Max Frisch und Herrmann Hesse konnten da wohl nicht verkehrt sein, denn alles schwärmte damals von „Homo faber“ und „Steppenwolf“.

Tatsächlich gefielen mir die genannten Werke sehr gut, obwohl ich nachträglich zweifle, ob ich sie damals wirklich verstanden hatte. Ich begann, weitere Werke dieser Autoren zu verschlingen und entdeckte dabei denjenigen Roman, der bis heute mein Lieblingsbuch geblieben ist: „Stiller“. Dennoch bedeutete das Entdecken der E-U-Grenze für mich eine herbe Einschränkung der Leselust und vor allem auch auf meine kreative Tätigkeit, was das Verfassen von Texten anbelangte.

 

 Vielleicht sollte hier eine kleine Rückblende erfolgen, welche dem Leser erklären kann, was ich denn vor diesem Schockerlebnis für eine Leseratte gewesen bin.

Aufgewachsen bin ich als Einzelkind, lesen und schreiben konnte ich bereits vor dem Kindergartenalter, und in der zweiten Klasse war meine Lehrerin so ziemlich überrascht, wenn ich mit Karl-May-Büchern auftauchte, welche doch eigentlich noch nicht so zum Horizont eines Achtjährigen zu gehören schienen.

Ich habe zu meiner Schulzeit alles gelesen, was mir in die Finger gekommen ist und habe auch ziemlich viel geschrieben und gezeichnet. Da waren eigene Bildergeschichten, die ich entworfen habe, da die Comics einen gewichtigen Teil meines Lesestoffs bildeten, aber es waren auch ganze und umfangreiche Erzählungen, welche (von Karl May und der Silberpfeil-Comic-Reihe inspiriert) zunächst im Wilden Westen angesiedelt waren, dann in eine Fantasiewelt mit Hobbits und Orks führten (ich hatte Tolkien etwa mit elf entdeckt) und schließlich in kriminalistische Gefilde führten – angeregt vom damals üblichen Programm: Hitchcocks drei ??? und Blytons „Fünf Freunde“, aber auch Agatha Christie las ich zu der Zeit mit sehr großem Interesse. Außerdem verfasste ich eine Kurzgeschichte mit James Bond, die im Norden Spaniens spielte.

Doch auch mit der so genannten hochstehenden Literatur wurde ich konfrontiert, da wir in der Sekundarschule doch den einen oder anderen Klassiker gemeinsam lasen; da wären „Wilhelm Tell“ und „Hamlet“ aus dem dramatischen Bereich, in der Belletristik gab’s Novellen wie den „Schimmelreiter“ oder „Kleider machen Leute“, und auch das „Nibelungenlied“ hatten wir in einer in Prosa adaptierten Form in altgotischer Schrift gelesen. Ich staune heute, welch umfangreiche Auswahl unser damaliger Deutschlehrer uns zehn- bis fünfzehnjährigen Sprösslingen doch vermittelt hat!

Meine Pultnachbarin, welche ein noch viel größere Leseratte als ich war, wandte sich schon in der achten Klasse der Erwachsenen-Belletristik zu, und einmal zeigte sie mir sogar voller Stolz einen Band mit Shakespeares Werken. Ich dagegen blieb eher bei der Jugendliteratur; Krimis und immer wieder Karl May hatten tief in meinem Herzen ihren Platz gefunden.

 

Dann kam der Übertritt ins Lehrerseminar und damit irgendwann in der zweiten oder dritten Woche der erste Aufsatz im Deutschunterricht. Titel: „Ein Buch, das ich gerne gelesen habe“. Ich schrieb mit großer Begeisterung einen Text über Karl Mays „Durch die Wüste“, ein Buch, welches ich mehr als einmal gelesen und mit zudem immer wieder auf Hörspielkassette angehört hatte.

Als die Texte zurückgegeben wurden, forderte mich mein Deutschlehrer auf, meine Arbeit vor der Klasse vorzulesen; da tat ich natürlich mit Freude, und bei der anschließenden Besprechung im Klassenverband stellte ich fest, dass die Freude nicht auf Gegenseitigkeit beruhte, und zwar nicht, was die Qualität meines Aufsatzes betraf, sondern was die Wahl meiner Lektüre anbelangte.

Es fielen Begriffe wie „minderwertige Literatur“, „billige Schreibe“, „Fließbandarbeit“ und so weiter.

Mein literarisches Weltbild wurde damit so richtig durchgeschüttelt.

Die Fortsetzung ist bekannt und wurde weiter oben bereits geschildert. Ich fand durchaus Gefallen an der vom Seminar empfohlenen Literatur, das gebe ich unumwunden zu, und ich dürstete danach, neue Autoren kennenzulernen, die ich bisher nur vom Hörensagen kannte, da sich in meiner Familie und in meinem Bekanntenkreis eigentlich niemand mit Dürrenmatt oder Schiller beschäftigte und die Sportresultate und aktuellen Kinofilme eher Gesprächsthemen waren als das zuletzt gelesene Buch.

Ich muss allerdings auch erwähnen, dass mit dem Eintauchen in die Welt der Klassiker meine Spontanität in der produktiven Form arg gelitten hatte. Bei jedem Satz, den ich zu Papier brachte, fragte ich mich: „Ist da jetzt wohl literarisch wertvoll, und wie würden die anderen darauf reagieren?“

Nach dem Seminar war das Lesefeuer von früher zu einer Glut verkommen, welche erst wieder ein paar Jahre später zum Lodern gebracht wurde, als mir Grishams „Firma“ in die Hände fiel. Ich habe seine Bücher daraufhin allesamt verschlungen und wenig später mit der Entdeckung von John Irvings epischen Werken mich mit meinem Hobby – dem Lesen und Schreiben und zwar unvoreingenommen! – wieder versöhnen können mit der Erkenntnis – um Bernsteins Zitat etwas abzuändern und damit den Kreis zu schließen – dass es nicht E- und U-Literatur gibt, sondern nur gute und schlechte Bücher – und das Urteil darüber fälle einzig und allein ich!