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Der Mann mit dem roten Schal

Der Mann mit dem roten Schal

 

Wenn ich mir Mario Venzagos Kleiderschrank vorstelle, so sehe ich Regale mit schwarzen Shirts, Hemden und Hosen, schwarze Anzüge schön ordentlich an den Bügeln aufgehängt. Und rote Halstücher! Böse Zungen behaupten sogar, dass er den Schal für ein Bad in der Aare nur widerwillig ablegen würde.

 

Man hielt in der Bundesstadt den Atem an, als nach zwei Chefdirigenten aus Sankt Petersburg ausgerechnet ein Zürcher im Mai 2010 ankündete, dass das Berner Publikum sich umgewöhnen müsse. Und als in seinem ersten Abokonzert Bruckners Sechste eher nach Schubert als nach dem spätromantischen Meister klang, war ein kritisches Grummeln unüberhörbar, fast so wie ein Kilometer westlich bei den Wappentieren im Bärenpark.

 

Elf Jahre und etwa zweihundertfünfzig Konzerte später verlässt Mario Venzago das Berner Symphonieorchester - und die ganze Stadt verneigt sich respektvoll und lässt ihn mit grossem Wehmut ziehen.

 

Er hat seine tolle Band, wie er das Orchester auch nannte, zu einer der führenden Schweizer Ensembles geformt mit einem unverkennbaren transparenten Klang. „Musizieren ohne Taktstriche“, war eine seiner Forderungen; die Tempi wirkten manchmal auf den ersten Blick zügig, fügten sich aber mit fortwährendem Zuhören zu einem stimmigen Gesamtkunstwerk. Traditionen sind ihm zuwider; er ist ständig auf der Suche nach neuen Erkenntnissen, vergräbt sich in Partituren und entdeckt dabei Details, die ihm das Werk in ein neues Licht stellen.

 

Mario Venzago ist immer nahbar; er kennt keine Berührungsängste und tauscht sich gerne mit dem Publikum aus. Das zeigte sich bereits dadurch, dass er seinen Wohnsitz nach Bern verlegte. Wann immer es ihm möglich war, nahm er am hiesigen Kulturleben teil, das konnte eine Aufführung seines Orchester unter einem Gastdirigenten sein oder ein Konzert von Konstantin Wecker im Kursaal.

 

Wenn er sich am Neujahrskonzert als Nummerngirl bezeichnet, das die Zuhörer bei Laune halten soll, während die Bühne umgebaut wird, so ist das zu einem Running Gag geworden. Wenn er zwischen den Sätzen oder dem Schlussakkord die Hand an die Brust legt, so weiss das Orchester, dass er sehr berührt ist. Wenn er nach der Aufführung wie ein Derwisch auf das Podium rennt, so steigert sich der Applaus um einige Dezibel. Und wenn er nach dem Konzert meint, dass er am liebsten nochmals von vorne beginnen möchte, so erkennt man staunend, welche Energie ihm die Musik spendet.

 

Vielen Konzertbesuchern wird er als umtriebiger und innovativer Chefdirigent des Berner Symphonie-Orchesters in Erinnerung bleiben. Er hat aber viel mehr für den Kulturbetreib getan; sein enormes Wirken im Hintergrund der Stiftung ist nicht nur Insidern bekannt. Als künstlerischer Leiter des Orchesters standen unzählige zeitraubende Sitzungen auf seiner Agenda. Bei der Zusammenführung von Theater und Orchester zu Konzert Theater Bern wirkte er als Mediator, und dank seinem geduldigen und kompromissbereiten, aber auch beharrenden Auftreten gelang die Zusammenführung zum Vierspartenhaus nach jahrelangen Konflikten. Allein dafür muss ihm ein riesengrosser Kranz gewunden werden.

 

Nun wird er am kommenden Freitag den Taktstock als Chefdirigent niederlegen und die Garderobe im Casino räumen. Nach einer Saison, die für den quirligen Workaholic eine Horrorzeit gewesen ist. Ausgerechnet auf seiner „Schlusstournee“, der letzten Saison mit dem BSO, die sein Schaffen noch einmal hätte Revue passieren lassen, konnte er lediglich zwei Abokonzerte vor Publikum leiten. Das tat weh, und das hat Mario Venzago für seine grossartigen Jahre in Bern nicht verdient. Ein Musikerkollege hat einmal erwähnt, dass er ihn für seine Leidensfähigkeit bewundere. Gelitten hat er während der Corona-Zeit, die Auftritte haben ihm gefehlt, und nichtsdestotrotz wird er Ende dieser Woche zwei glänzende und inspiriende Konzert mit seinem BSO geben. Garantiert!

 

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